6 Stärken Introvertierter: Diese Vorteile bringt das „Stille“ im Job mit sich
von Julia Molina
Im Arbeitsleben muss man laut, schnell und kontaktfreudig sein, um Erfolg zu haben? Mitnichten! Julia Molina zeigt, welche wertvollen Qualitäten in introvertierten Menschen schlummern und wie sie diese optimal in ihrem Job entfalten können.
Unsere westliche Kultur ist auf Extraversion ausgerichtet – das gilt auch und besonders in der Arbeitswelt. Wir sollen uns gut verkaufen können und selbstbewusst unsere Stärken präsentieren, „kommunikativ, teamfähig und vortragssicher“ sein und uns am besten auch in Meetings schnell und lautstark zu Wort melden. In der Regel sind das alles Dinge, die einem introvertierten Menschen weniger leicht fallen oder ihm sogar zuwider sind – und jetzt? Während es sicher besser und weniger gut geeignete Berufe für ruhige Menschen gibt, so bringt die Ausrichtung auf das Innere selbst in klassischen „extravertierten“ Feldern eine Menge Vorteile mit sich, die leider oft zu wenig Beachtung finden. Zwar ist nicht jede der folgend aufgelisteten Stärken bei allen Introvertierten gleich stark ausgeprägt (denn darüber hinaus formen viele weitere Eigenschaften unseren Charakter). Doch als Kollektiv weisen Introvertierte bestimmte Qualitäten mit höherer Wahrscheinlichkeit auf – und können bei cleverem Einsatz im Job damit punkten.
1. Tiefgang
Es wurde mehrfach nachgewiesen, dass Extra- und Introvertierte Unterschiede in der Hirnnutzung aufweisen. Nicht nur reagieren die Gehirne introvertierter Menschen intensiver auf Reize, weswegen sie schneller „genug“ haben und dadurch überhaupt erst der Charakterzug des „sich nach Innen Zurückziehens“ zustandekommt. Es sind bei beiden Gruppen auch unterschiedliche Areale aktiver: So zeigt sich bei den Gehirnen Introvertierter eine vermehrte Durchblutung in den Bereichen für Planung, Gedächtnis und Problemlösen und eine allgemein höhere Aktivität. Das führt dazu, dass die meisten Introvertierten analytisch sind und gerne denken, und dass sie eher bei für sie interessanten Themen in die Tiefe gehen (statt sich mit vielem in der Breite zu befassen, wozu Extravertierte neigen). Diese Tendenz sorgt dafür, dass Introvertierte gut durchdachte Lösungen liefern, alle wichtigen Details im Blick behalten und zum Kern von Themen vordringen.
So nutzen Sie diese Stärke im Job: Im besten Falle wählen Sie einen Beruf, der Ihrer Liebe zu komplexen Denkvorgängen entgegenkommt: als Data Analyst oder Programmierer, Autor, Wissenschaftsredakteur oder Forscher, aber auch im sozialen Bereich als Therapeut oder Ratgeber. In anderen Berufszweigen ist es hilfreich, Ihre Stärke mit denen Ihrer extravertierten Kollegen durch passende Aufgabenverteilung zu verbinden: Während Sie sehr gut strategisch arbeiten, den Reality Check durchführen und auf Details achten können, sind andere vor allem gut darin, zu handeln und Projekte umzusetzen. Achten Sie darauf, dass Sie möglichst viele der „tiefen“ Aufgaben übernehmen können.
2. Zuhören
Weil Introvertierte in sozialen Situationen zurückhaltender sind und eher bescheiden auftreten, fühlen sich gerade extravertierte Menschen bei ihnen oft wohl (da diese meist lieber selbst reden). Die Fähigkeit introvertierter Personen, wirklich aufmerksam zuzuhören, ist im Privaten wie im Beruflichen sehr gefragt. Introvertierte erfassen und erinnern sich auch an die Details, die ihr Gegenüber erwähnt, und sie schenken ihren Gesprächspartnern immer die volle Aufmerksamkeit. Aufgrund ihrer Tiefgründigkeit mögen Introvertierte meist auch keinen Smalltalk, sondern bevorzugen „echten“ Austausch über relevante Themen. Das führt dazu, dass Beziehungen schneller von einer oberflächlichen Ebene in die Tiefe gehen.
So nutzen Sie diese Stärke im Job: Ob als Teammitglied oder in Führungspositionen – mit Ihrem aufmerksamen Erfassen aller wichtigen Informationen gelingt es Ihnen, die Arbeitsbeziehungen mit Ihren Kollegen oder Angestellten positiv zu gestalten, da Sie die Bedürfnisse der anderen kennen und Ihnen keine noch so kleine Information entgeht. Auch für Ihre Arbeitsergebnisse ist diese Stärke förderlich, denn wer von Anfang an alle Details mitbekommt, macht weniger Fehler. In Meetings zeigt sich Ihr aufmerksames Zuhören häufig daran, dass Sie zwar mitunter wenig sagen, dann aber ein Thema sehr gut auf den Punkt bringen – unter Berücksichtigung aller vorher genannten Informationen. Schließlich prädestiniert diese Fähigkeit Sie optimal für beratende Berufe.
3. Konzentrationsvermögen
In ihrem Kopf und ihrer inneren Welt fühlen sich Introvertierte zuhause; dort regenerieren Sie sich und laden die eigenen Batterien wieder auf. Reflektieren und Denken sind ihr grundlegender „Modus Operandi“ und das, was sie am meisten fesselt und interessiert. Entsprechend verspüren sie kein so großes Bedürfnis nach externer Stimulation wie Extravertierte – und lassen sich weniger von äußeren Faktoren ablenken. Weil sie ohnehin so viel Zeit alleine mit ihren Gedanken verbringen, langweilen sie sich nicht bei Aufgaben, die hohe Konzentration erfordern – im Gegenteil. Dadurch arbeiten sie effizient und eigenständig.
So nutzen Sie diese Stärke im Job: Ihnen liegen Berufe, die Höchstkonzentration, Präzision und Fokus verlangen: vom Fluglotsen über den Chirurgen bis hin zum Designer. Doch auch in anderen Umfeldern werden Ihre Mitarbeiter schnell merken, dass Sie sehr fokussiert arbeiten – vorausgesetzt, das Umfeld stimmt. Denn um Ihre Bestleistung abrufen zu können, brauchen Sie in der Regel Ruhe und wenige bis keine andere Menschen um sich. In einem wuseligen, lauten Großraumbüro sind Sie schnell überreizt und können sich gar nicht mehr konzentrieren. Richten Sie es nach Möglichkeit ein, sich im Büro an ruhige Orte zurückziehen zu können oder viel im Homeoffice zu arbeiten.
4. Kreativität
Auch Extravertierte sind ohne Zweifel kreativ, das soll nicht in Abrede gestellt werden. Aber der kreative Prozess an sich braucht eine gewisse Introspektion: Ideenfindung entsteht durch assoziatives Denken und Verknüpfen verschiedener Aspekte zu etwas Neuem. Auf diese Weise Gedanken miteinander zu verbinden ist gewissermaßen der „Home Turf“ der Introvertierten, weshalb sie oft besonders kreativ sind. So zählen viele berühmte Kreative, etwa im Bereich der Schriftsteller, Musiker und Maler, zu den Introvertierten (z. B. J. R. R. Tolkien, Kurt Cobain, Vincent Van Gogh). Aber nicht nur künstlerische, sondern auch wissenschaftliche oder technische Kreativität findet sich vermehrt bei introvertierten Menschen (z. B. Albert Einstein, Mark Zuckerberg, Bill Gates).
So nutzen Sie diese Stärke im Job: In welchem Bereich auch immer Sie arbeiten: Verknüpfen Sie Ihre Kreativität mit Ihrer Expertise, und Sie werden wertvolle und innovative Lösungen anstoßen. Ob Sie als Bibliothekar ein neues Ordnungssystem ersinnen, als Forscher auf einen bislang übersehenen Zusammenhang stoßen oder „klassisch“ kreativ in Wort, Bild oder Klang Ihre innere Welt mit anderen teilen – achten Sie unbedingt darauf, dass Sie bei der Arbeit Wege finden, Ihrem Einfallsreichtum Ausdruck zu verleihen. Sie müssen nicht zwingend in einer Branche arbeiten, die für ihre Innovationsorientierung bekannt ist. Doch Sie sollten zumindest die Möglichkeit haben, Ihren guten Ideen Gehör zu verschaffen.
5. Unabhängigkeit
Wer am liebsten Zeit in seiner inneren Welt verbringt, ist im wahrsten Sinne selbstgenügsam – eine Eigenschaft, die Introvertierte sehr unabhängig macht. Man muss sie nicht ständig bespaßen, weil sie sich immer alleine beschäftigen können, ohne sich zu langweilen. Auch beim Arbeiten brauchen sie niemanden, der ihnen ständig applaudiert oder mit ihnen gemeinsam an Projekte herangeht. Entsprechend sind die meisten Introvertierten auch – im positiven wie im negativen Sinne – weniger anfällig für Gruppendynamiken: Sie lassen sich vielleicht weniger mitreißen und verbringen weniger Zeit mit den Kollegen, sind dafür aber auch wesentlich weniger in Klatsch verwickelt und lassen sich von der Gruppenmeinung weniger unter Druck setzen. Außerdem sind Introvertierte oft weniger materialistisch als ihre extravertierten Kollegen. Macht und Status üben für sie keine allzu große Anziehungskraft aus, was sie mitunter weniger bestechlich macht.
So nutzen Sie diese Stärke im Job: Berufe, in denen man (viel) alleine arbeitet, lassen die meisten Introverierten aufblühen. Während zu viel Interaktion mit anderen oder aufgezwungene Teamarbeit ihre Energiereserven erschöpfen und zu schlechteren Arbeitsergebnissen führen, können introvertierte Personen dort eingesetzt werden, wo sich andere einsam fühlen würden. In Zeiten vermehrter Remote Work können sich Arbeitgeber darauf verlassen, dass Introvertierte nicht „beaufsichtigt“ werden müssen, um ihre Arbeit zu erledigen. Sollten Sie keinen reinen „One person“-Job haben, achten Sie darauf, dass Sie nicht ständig mit anderen zusammenarbeiten (müssen), sondern immer auch genügend Arbeitsphasen alleine haben. Und zeigen Sie bei aller Unabhängigkeit Ihren Kollegen trotzdem, dass Sie sie schätzen und gerne mit ihnen arbeiten – eine offene Kommunikation verhindert viele Missverständnisse.
6. Besonnenheit
Der Psychologe Jerome Kagan fand heraus, dass selbst bei Säuglingen die spätere Neigung zu Intro- oder Extraversion schon belegt werden kann. Diejenigen Babys, die in einer Reihe von Experimenten gestresster auf neue Reize (wie platzende Luftballons) reagierten, weinten und Unwohlsein demonstrierten, wuchsen zu introvertierten Erwachsenen heran – während der Rest der Babys mehr oder weniger entspannt blieb. Entsprechend sind Introvertierte ihr Leben lang vorsichtiger und eher risikoavers, während die erfahrungshungrigen Extravertierten sich oft kopfüber ins Abenteuer stürzen. Beide Herangehensweisen haben in bestimmten Umfeldern Vorteile. Introvertierte sorgen mit ihrer besonnenen, durchdachten Vorgehensweise jedenfalls dafür, dass keine unnötigen Risiken eingegangen werden und Pläne hieb- und stichfest sind, bevor sie in die Tat umgesetzt werden.
So nutzen Sie diese Stärke im Job: Das richtige Arbeitsumfeld ist in Bezug auf diese Neigung sehr wichtig. In sehr schnelllebigen, risikohaften oder oberflächlichen Branchen, in denen immer sofort Entscheidungen getroffen werden müssen und auch der ein oder andere „Gamble“ erwünscht ist, werden Sie sich vermutlich weniger wohlfühlen. Andererseits bringen die meisten Berufe gemischte Anforderungen mit sich, sodass Sie in der passenden Position mit Ihrer besonnenen Art zum Wohle aller beitragen können. Vielleicht übernehmen Sie die Aufgabe, mit fundierter Recherche die Realisierbarkeit von Plänen zu prüfen, oder Sie bereiten schon mal Plan B, C und D für den Falle eines Scheiterns vor. Auch hier gilt es, sich gegenseitig in seinen Tendenzen und Stärken zu schätzen: Sie möchten nicht als Innovationsbremse missverstanden werden – ebenso wenig wollen Ihre waghalsigeren Kollegen als „unvernünftig“ dargestellt werden.
Fazit
Ihre Neigung zur Introversion bringt eine Reihe wunderbarer Stärken mit sich, die den Qualitäten lauter Selbstvermarkter in nichts nachstehen. Besprechen Sie bei Bedarf mit Ihrem Vorgesetzten, welche Aufgaben Ihnen Ihrer Meinung nach liegen und wo Sie sich gerne einbringen würden. Gerade bei Introvertierten fallen Stärken nämlich oft gar nicht auf, da sie so bescheiden auftreten und eher im Hintergrund bleiben, statt ihre Erfolge hinauszuposaunen. Es ist daher sehr hilfreich, sich die eigenen Talente und Fähigkeiten bewusst zu machen und proaktiv zu überlegen, wie Sie sie am besten einsetzen können. Merken Sie, dass Sie in Ihrem Job absolut nicht aus Ihren Stärken schöpfen können, sondern vor allem Ihre Schwächen ausgleichen müssen, sollten Sie dringend über einen Jobwechsel nachdenken. Das gilt übrigens für jeden Menschen, ganz unabhängig von seinem Grad der Extra- oder Introversion.
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01.02.2021