Ambiversion – die Balance aus extravertierten und introvertierten Zügen
von Julia Molina
Etwa zwei Drittel aller Menschen fällt es schwer, sich eindeutig als intro- oder extravertiert zu bezeichnen. Sie haben Charakterzüge beider Pole – und können sich deshalb über eine besonders ausgeglichene Persönlichkeit freuen. Julia Molina gibt Einblicke ins Thema.
An manchen Wochenenden können Sie von Freitag bis Sonntag alleine mit einem Buch auf der Couch liegen und sind rundum glücklich – während Sie an anderen bis in die Morgenstunden Party machen? Oder Ihre einzigartige Mischung aus offen und zurückhaltend äußert sich so, dass Sie zum Beispiel leidenschaftlich gerne beim Karaoke alles geben, aber in Business-Meetings mit vielen Kollegen eher schüchtern auftreten? Das alles kann darauf hindeuten, dass Sie ein ambivertiertes Temperament haben, also sowohl typisch extravertierte als auch typisch introvertierte Eigenschaften besitzen. Woran erkennen wir, dass wir ambivertiert sind? Welche Vorteile bringt diese Veranlagung mit sich – und vor welche speziellen Herausforderungen stellt sie uns?
Zum theoretischen Hintergrund der Ambiversion
Die Unterscheidung der beiden auf einem Kontinuum gegenüberliegenden Eigenschaften Extraversion und Introversion geht auf C. G. Jung zurück. Er beschrieb 1921 als erster, dass einige Menschen „nach außen gerichtet“ (extravertiert) leben, gerne viel äußere und soziale Stimulation haben und dadurch an Energie gewinnen – während die „nach innen Gerichteten“ (Introvertierten) schnell überreizt sind, sich mit Vorliebe ihrer eigenen gedanklichen Welt widmen und ihre Batterien beim Alleinsein aufladen. Der Psychologe Hans Jürgen Eysenck hat das Modell um Abstufungen zwischen beiden Extrempolen erweitert und den Begriff der Ambiversion („zu beiden gerichtet“) eingeführt.
Ambiversion kann auf zwei Weisen verstanden werden. Zum einen kann es sich dabei um Personen handeln, die keine sehr ausgeprägte Neigung zur Extra- oder Introversion aufweisen, also beispielsweise nur etwas mehr extra- als introvertiert sind oder umgekehrt. Sie sind weder besonders aus sich herausgehend noch besonders verschlossen, sondern eben „im Mittelbereich“ anzusiedeln. Zum anderen können Menschen als ambivertiert bezeichnet werden, die sich wechselweise sehr extravertiert und dann wieder sehr introvertiert verhalten. Durch die extremen Unterschiede im Verhalten können sie auf andere manchmal wie zwei verschiedene Personen wirken. Diese Ausprägung der Ambiversion korreliert nachweislich auch mit hohen Neurotizismus-Werten. Die meisten Ambivertierten weisen jedoch einfach „ein bisschen von beiden Seiten“ auf und können vor allem ihre Haltung situationssensitiv anpassen.
Sind Sie ambivertiert?
Vielleicht konnten Sie sich noch nie eindeutig einem der beiden Pole zuordnen, erhalten in Persönlichkeitstests immer wieder unterschiedliche Ergebnisse und wundern sich selbst darüber, dass Sie manchmal sehr aus sich herausgehen und Socializing lieben, während Ihnen an anderen Tagen alles zu viel wird und Sie sich zurückziehen. Die folgenden Indizien sprechen zusätzlich dafür, dass bei Ihnen ein ambivertiertes Temperament vorliegt.
- Anpassungsfähigkeit
Wer beide Seiten ausgewogen in sich vereint, kann entsprechend auch flexibel entscheiden, welche er in welchen Situationen zum Ausdruck bringen möchte. Ein sehr extravertierter Mensch beispielsweise langweilt sich in der Regel schnell, wenn er Zeit alleine verbringen muss. Ein sehr introvertierter Mensch gerät hingegen in Stress, wenn er unvorhergesehen im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Ein Ambivertierter kommt gewissermaßen mit allen Bedingungen gut zurecht, da alle Verhaltensweisen „in seinem Repertoire“ zu finden sind.
- Soziale Verträglichkeit
Ambivertierte Menschen sind meistens Sympathieträger. Kein Wunder, kennen sie doch selbst unterschiedliche Bedürfnisse und Stimmungen und kommen daher sowohl mit sehr lebendigen, actionorientierten Personen als auch mit stillen Menschen gut aus. Generell können sie sich meist sehr gut in andere Menschen hineinfühlen und haben ein gutes Gespür dafür, welches Verhalten gerade angebracht ist. So senken sie beispielsweise ihre Stimme und sprechen besonders einfühlsam, wenn sie einer schüchternen Person gegenübertreten, und zeigen bei anderen Menschen ihre „wilde“ Seite.
- Vieles gibt Energie
Da sie sowohl aus „extravertierten“ Situationen Energie schöpfen können als auch aus typisch „introvertierten“ Beschäftigungen, fällt es Ambivertierten generell leicht, positive Erlebnisse zu haben – unabhängig von den äußeren Bedingungen. Ein Freund sagt spontan das geplante Treffen ab? Kein Problem, der ambivertierte Mensch kann sich auch alleine beschäftigen und unternimmt zum Beispiel einen langen Spaziergang für sich. Im Job geht es plötzlich hektisch zu und es müssen extrem viele Anfragen beantwortet werden? Der Ambivertierte kommt auch mit dem erhöhten Reizniveau gut klar und empfindet vielleicht sogar Spaß dabei, mit schneller Taktung als Troubleshooter einzuspringen. So können Ambivertierte nicht nur bei plötzlichem Bedarf, sondern auch gezielt mit einer breiten Palette an Hobbys und Freizeitbeschäftigungen ihre Energiereserven aufladen.
Die Vorteile und Herausforderungen Ambivertierter
Die genannten Aspekte, anhand derer man sich als ambivertierte Person wiedererkennen kann, beinhalten ein riesiges Asset dieser Menschen: Flexibilität und Vielseitigkeit. Nicht nur in privaten Beziehungen sind sie deswegen beliebt, sondern auch im Job verhilft ihnen das nachweislich zum Erfolg. Eine Studie von Adam Grant zeigt beispielsweise, dass ambivertierte Verkäufer*innen mehr Umsatz machen als sowohl rein extra- als auch introvertierte Kolleg*innen. Das Ergebnis wird damit begründet, dass Ambivertierte das „Beste aus beiden Welten“ im Kundenkontakt vereinen: Sie sind enthusiastisch und durchsetzungsstark genug, um Klient*innen mitzureißen und zu überzeugen, hören aber ebenso aufmerksam zu und wirken bedacht, wodurch man ihnen vertraut und sie nicht als zu aufdringlich empfindet. Ihre Eigenschaften machen Ambivertierte darüber hinaus zu Allroundern, die man in vielen verschiedenen Arbeitssituationen einsetzen kann und die gleichbleibend gute Leistung abliefern, ob in Ruhe oder Trubel, im Teamwork oder alleine.
Was einerseits ein Segen ist, kann jedoch auch zu speziellen Herausforderungen führen. Da mitunter ihre Bedürfnisse von Situation zu Situation wechseln, sollten ambivertierte Menschen sich angewöhnen, genau in sich hineinzuhören, wonach ihnen gerade ist. Denn während ihre Anpassungsfähigkeit ihnen hilft, den Alltag zu meistern, tun sie gut daran zu prüfen, ob sie sich in jedem Fall anpassen müssen – oder lieber ihrem momentanen Bedürfnis Rechnung tragen sollten. Wer beispielsweise im „extravertierten Modus“ sein ganzes Wochenende verplant hat, stellt, wenn es so weit ist, manchmal fest, dass er nun doch eher Ruhe bräuchte. Es geht zwar jedem so, dass sich die eigene Stimmung nicht immer genau antizipieren lässt. Gerade Ambivertierte sollten sich aber durch Selbstbeobachtung gut kennenlernen, um zu verstehen, in welchem Verhältnis ihre Bedürfnisse üblicherweise zueinander stehen. Beispielsweise könnten sie herausfinden „Ich brauche mindestens zwei Abende pro Woche für mich, um mich wohlzufühlen.“ oder „Jeden zweiten Tag sollte ich mich zumindest per Call oder WhatsApp mit meinen Freunden austauschen, sonst fühle ich mich abgeschnitten.“.
Ambivertierte sollten zudem verinnerlichen, dass sie sich nicht an alles und jeden anpassen müssen, nur weil sie es können. Gibt es beispielsweise Menschen in Ihrem Leben, die Sie immer wieder auslaugen bzw. die Ihnen Ihre positive Energie nehmen, dann müssen Sie mit Ihnen nur wenig (oder wenn möglich keinen) Kontakt haben! Nur weil Sie sich relativ flexibel auf sie einstellen können, ist das kein Zwang. Genauso ist wichtig zu identifizieren, welche Arbeitsbedingungen Sie eigentlich stressen. Das kann von Mensch zu Mensch verschieden sein: Während den einen Ambivertierten improvisierte Präsentationssituationen stressen, ist ein anderer genervt, sehr lange mit Aufgaben alleine gelassen zu werden. Finden Sie heraus, welche Umgebungsbedingungen Sie beflügeln, und setzen Sie sich dafür ein, vorrangig unter ihnen arbeiten zu können.
Fazit
Ambivertierte können durch ihre Veranlagung auf ein vielseitiges Repertoire an Stärken zurückgreifen und haben deshalb oft eine ziemlich große Komfortzone, in der sie sich bewegen. Im Arbeitskontext sind sie multifunktional einsetzbar und verspüren sowohl in Gruppensituationen als auch bei der Einzelarbeit Motivation, weil sie beides mit Energie versorgt – ein immenser Vorteil, beides abdecken zu können und jeweils einen guten Beitrag zu leisten. Auch im Privaten sind Ambivertierte äußerst flexibel. Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder ambivertierte Mensch zu jeder Zeit „für alles zu haben“ ist – eine Gefahr liegt auch darin, dass das berufliche und private Umfeld dies irgendwann erwartet, wenn er schon oft seine Anpassungsfähigkeit unter Beweis gestellt hat. Sich selbst zu kennen und die eigenen Befindlichkeiten ernstzunehmen, ist daher der Schlüssel, um sich als ambivertierte Person selbst treu zu bleiben – und gleichzeitig von der eigenen Veranlagung zu profitieren.
Die wichtigste Grundlage für beruflichen Erfolg und persönliche Zufriedenheit bildet eine Lebensführung in Übereinstimmung mit Ihrer Persönlichkeit. Sie zu kennen, ist der erste Schritt. Mit unserem kostenfreien Schnuppertest bieten wir Ihnen die Möglichkeit, ihn zu gehen und einen ersten Einblick in Ihr Inneres zu erhalten.
06.04.2021