Eine Frage der Haltung: Von enttäuschten Erwartungen und erwartbaren Enttäuschungen
von Ragnhild Struss
Die Herausforderungen des Alltags werden überschaubarer, wenn wir lernen, weniger zu erwarten, Unterschiedlichkeit auszuhalten und besser zu kommunizieren. Denn auch wenn ein gewisses Maß an Enttäuschung zum Leben dazugehört, können wir durch unseren Umgang mit Erwartungen schwereren Enttäuschungen vorbeugen und unser Leben zufriedener und erfüllter gestalten. Diese Ideen helfen dabei.
Im ersten Teil des Artikels haben wir uns mit den theoretischen Hintergründen beschäftigt und beleuchtet, was wir von Erwartungen und Enttäuschungen lernen können. Nun wollen wir handfeste Tipps zum Umgang mit Erwartungen und Enttäuschungen geben und verraten, wie der Spagat zwischen Wunsch und Realität gelingen kann.
In drei Abschnitten richten wir den Blick auf die Erwartungen, die wir an uns selbst stellen, die Erwartungen, die wir an andere haben und zuletzt geht es darum, wie wir lernen können, besser mit den Erwartungen von anderen an uns umzugehen.
A: Erwartungen an sich selbst
1. Erwartungshaltung verändern – bewusste Worte wählen
Wenn Sie die Erwartung an sich selbst haben, in Ihrem Job jeden Tag auf höchstem Niveau Leistung zu erbringen, eine hervorragende Kollegin, die beste Mutter aller Zeiten und gleichzeitig eine immer hilfsbereite Ansprechpartnerin für alle in Ihrem Umfeld zu sein, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie dieser Erwartung nicht gerecht werden. Besser wäre es doch, die Ansprüche an Sie ein wenig herunterzuschrauben bzw. liebevoller und realistischer zu formulieren. Das geht z. B., indem Sie Superlative und Generalisierungen aus Ihrem Wortschatz streichen. Achten Sie auf Formulierungen wie „immer“, „überall“, „jederzeit“, „am besten“, „am schnellsten“, „am erfolgreichsten“ – vielleicht ist es gar nicht nötig, sondern eher hinderlich im eigenen Vorankommen, diese Superlative als Zielmarke im Kopf zu haben. Wenn Sie hingegen eigene Ziele und Erwartungen so formulieren, dass sie erreichbar sind, werden Sie häufiger Erfolgserlebnisse haben und Stück für Stück an Ihren Aufgaben wachsen können, anstatt sich von Anfang an mit zu hohen Erwartungen zu überfrachten und automatisch zu scheitern. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Prioritäten zu setzen und eine Auswahl treffen zu können. Welcher Lebensbereich ist Ihnen derzeit besonders wichtig? Welche Wünsche haben Sie in diesem an sich selbst? Wie viel Energie steht Ihnen für die Erfüllung dieser Wünsche zur Verfügung?
2. Biographiearbeit: Wessen Stimme spricht?
„Sei nicht so vorlaut“, „Das gehört sich nicht“, „Von nichts kommt nichts.“ – Sätze wie diese, die wir alle vermutlich hin und wieder zu uns selbst sagen, stammen meist aus frühen Prägungen in der Kindheit und Jugend. Nicht selten übernehmen wir Lebensskripte aus unserer Familie, wobei uns gar nicht bewusst ist, woher diese Vorstellungen kommen. Wer die eigenen Glaubenssätze und Erwartungen immer wieder bewusst hinterfragt, kann lernen zu sortieren, welches die eigenen Vorstellungen sind und welches alte, überholte Prägungen aus der Familie oder dem sozialen Umfeld, die nicht mit den eigenen Werten übereinstimmen.
Fragen Sie sich: Was wurde in der Kindheit von mir erwartet? Welche Erwartungen hatten Eltern, Großeltern, Lehrerinnen an mich? Welche Rolle in der Familie war für mich reserviert? Und welche dieser Erwartungen haben Sie internalisiert, also zu einer inneren Stimme gemacht, die sich anfühlt, als wäre es die eigene, obwohl sie von anderen übernommen wurde? Typische Beispiele für solche übernommenen Erwartungen sind Sätze wie „Ein Mann darf keine Schwäche zeigen“ oder „Ich muss mich anpassen, um gemocht zu werden“. Bei genauerer Betrachtung der Erwartungen, die wir an uns selbst haben, lässt sich herausfinden, ob es sich um alte, übernommene Anforderungen handelt oder um das, was wirklich unserer eigenen Überzeugung entspricht. Speziell, wenn wir sehr hart mit uns ins Gericht gehen, also extrem hohe Erwartungen an uns stellen und uns selbst wie automatisch antreiben, ohne dass wir das Gefühl haben, eine Wahl zu haben, handelt es sich oft um überlieferte Anforderungen aus früheren Zeiten, die wir zu wenig hinterfragt haben.
Diese Fragen können Ihnen helfen, herauszufinden, was eigene und was alte, nicht zu Ihnen gehörende Überzeugungen sind: Was hat mein Vater früher von mir erwartet? Was wollte meine Mutter, wie ich mich verhalte? Welche Vorstellungen davon gab es, wie ich zu sein hatte? Welche Menschen wurden besonders gelobt oder bewundert und für was? Welche Anteile davon haben Sie möglicherweise übernommen? Welche Schlüsse haben Sie daraus gezogen, was wünschenswert und erstrebenswert ist und was vermieden werden sollte?
Sie können sich auch fragen, welche Vorstellung von anderen Menschen in Ihrem Umfeld vorherrschte. Galt die Welt eher als gefährlich, haben Sie gelernt, sich in Acht zu nehmen? Oder wurden Ihnen ein Bild vermittelt, dass andere Menschen meist Ihr Bestes wollen und Sie vertrauen dürfen? All diese Sichtweisen auf das Leben und die Mitmenschen prägen unsere Wahrnehmung der Welt und oft übernehmen wir diese Vorstellungen unreflektiert, was dazu führt, dass wir auch im Erwachsenenalter noch von ihnen beeinflusst werden oder versuchen, die Erwartungen zu erfüllen.
3. Prozess statt Ergebnis
Oft fokussieren wir uns so sehr auf ein bestimmtes Ergebnis, dass der Weg dorthin fast vergessen wird. Wer von sich selbst eher Erwartungen an das Bemühen stellt, also sich vornimmt, sich für eine Sache einzusetzen und zu engagieren, anstatt alle Hoffnungen auf das Endergebnis zu richten, hat nicht nur mehr Einfluss auf die Zielerreichung – nämlich das Bemühen –, sondern bringt sich selbst auch mehr Wertschätzung entgegen und wird weniger oft enttäuscht werden, weil das Ziel erreichbarer ist. Bildlich gesprochen bedeutet das: Wenn bereits der Versuch, den Berg zu besteigen, wertgeschätzt wird, und nicht erst das Erreichen des Gipfels, steigt die Motivation, weiterzugehen – und damit die Wahrscheinlichkeit, auch die nächste Etappe zu schaffen.
Wenn wir uns am Growth-Mindset orientieren, also den Prozess in den Mittelpunkt stellen und das erstrebenswerte Ziel Wachstum und Entwicklung sind, können wir uns vom Goal-Mindset, also der reinen Fokussierung auf das Ergebnis, verabschieden und auch kleine Fortschritte als Erfolge feiern. Dann gilt nicht mehr das Prinzip „alles oder nichts“, sondern „jeder Schritt zählt“.
4. Mit Enttäuschung umgehen
Ebenso wie wir von Beginn des Lebens gefühlt mit Erwartungen konfrontiert werden, ist es wahrscheinlich, die ein oder andere Enttäuschung als Teil der Lebenserfahrung zu verzeichnen – die Frage ist, wie wir mit ihnen umgehen und welche Bedeutung wir ihnen geben. Zwar können wir nicht vermeiden, hin und wieder eine Enttäuschung zu erleben, doch das müssen wir auch gar nicht, denn das Gefühl von Enttäuschung kann helfen, uns selbst besser kennenzulernen, unsere Vorstellungen von uns und dem Leben zu hinterfragen und uns weiterzuentwickeln. Werden Enttäuschungen verdrängt und nicht gespürt, können sich die Gefühle aufstauen, größer werden und zu Frust, Verbitterung oder Opferdenken führen. Daher ist es wichtig, den Empfindungen Raum zu geben und sich bewusst zu machen, welche Kräfte gerade am Werk sind. Enttäuschungen zuzulassen und zu erkennen, woher die Empfindung rührt, worin genau die Ent-täuschung liegt, ermöglicht den Schritt in Richtung Akzeptanz und im Anschluss daran das Loslassen der ursprünglichen Vorstellung. Um den Gefühlen auf den Grund zu gehen und einen Umgang mit ihnen zu entwickeln, können Gespräche mit Freund*innen helfen, der Austausch über Erfahrungen und das Teilen von Empfindungen kann manches in neuem Licht erscheinen lassen. Ebenso kann Journaling, also das aufschreiben der eigenen Gefühle und Gedanken, beim Sortieren und Einordnen helfen und zu neuen Erkenntnissen führen.
5. Fokus verändern
Ist es tatsächlich so, dass Ihr Leben voller Enttäuschungen steckt? Oder nehmen Sie diese vielleicht viel deutlicher wahr als all die positiven Begegnungen, erfüllten Erwartungen und angenehmen Ereignisse in Ihrem Alltag? Der Mensch neigt dazu, sich intensiver an unangenehme Erfahrungen zu erinnern – ein evolutionär kluger Schachzug, denn abzuspeichern, wo uns einmal eine giftige Schlange begegnet ist und evtl. wieder begegnen könnte, ist für unser Überleben entscheidender als die Erinnerung an eine gelungene Überraschung oder eine nette Geste. Prüfen Sie also, wo Ihr Gefühl der Enttäuschung berechtigt ist und an welcher Stelle Sie die Dinge neu bewerten können, indem Sie eine andere Perspektive einnehmen. Hier helfen Fragen wie: „Wie würde meine beste Freundin diese Situation bewerten?“, „Wie würde ein externer Mediator versuchen zu vermitteln?“ oder „Wie würde ich in 10 Jahren vermutlich auf diese Situation schauen?“
6. Flexibel bleiben
Erwartungen verändern sich im Laufe des Lebens und je nach Entwicklungsphase gibt es typische Vorstellungen davon, wie wir auf die Welt blicken und wie das Leben sein soll. In der Jugend ist es normal, davon zu träumen, später mal ein berühmter Popstar, eine gefeierte Schriftstellerin oder die Leitfigur einer sozialen Bewegung zu sein. Diese Träume bringen uns ins Handeln, treiben an und motivieren, uns auf den Weg zu machen. Sie zeigen uns auf, wo wir hinwollen und wie unser Leben, unser Job, unsere Beziehungen, wir selbst sein könnten.
Je älter und reifer wir werden, desto mehr passen wir unsere Erwartungen der Realität an. Wir erkennen, dass es vielleicht genügt, privat in einer kleinen Band zu spielen, uns in der eigenen Stadt politisch zu engagieren, oder wir halten an dem Traum eines eigenen Buchprojekts fest – aber verabschieden uns von der Vorstellung, dass es ein Bestseller werden muss. Mit dieser Anpassung unserer Erwartungen verändert sich auch unser Selbstbild. Der Teil, der sich selbst als berühmt, erfolgreich, besonders erträumt hat, wird kleiner, und der Teil, der erkennt, dass weniger besonders genauso gut sein kann, wächst. Wir tauschen den narzisstischen Wunsch, etwas Besonderes leisten oder sein zu müssen gegen nahbarere Ziele, und der Druck, den die hohen Ansprüche erzeugen, lässt nach. Gleichzeitig verändert diese Entwicklung auch unseren Blick auf andere. Wenn wir lernen, die Erwartungen an uns selbst in einem gesunden Maß zu halten, können wir auch gegenüber unserem Umfeld eine weniger fordernde, nachsichtigere Haltung einnehmen.
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B: Erwartungen an andere
1. Klar kommunizieren
Die wenigsten sind es gewöhnt, über Erwartungen zu sprechen, sondern setzen fälschlicherweise voraus, dass der andere sie wissen müsste. Das liegt vor allem daran, dass wir unsere eigenen Standards auf andere übertragen. Dabei kann das Bewusstmachen und Ausdrücken der eigenen Erwartungen vieles verändern: Lassen Sie Ihr Gegenüber wissen, was Sie wollen. Niemand sitzt in Ihrem Kopf und niemand muss wissen, welche Erwartungen Sie haben, wenn Sie diese nicht kommunizieren. Probieren Sie es mit Sätzen wie. „Ich wünsche mir, dass …“ „Ich würde es schön finden, wenn …“ oder „Für mich ist sehr wichtig, dass…“. Treffen Sie gemeinsam klare Absprachen und Vereinbarungen, an die es sich dann zu halten gilt – für alle Beteiligten.
Mindestens ebenso wichtig, wie die eigenen Erwartungen zu kommunizieren ist es, auszudrücken, wenn sich Enttäuschung breit gemacht hat. Teilen Sie Ihre Emotionen in der Beziehung, um die es geht. Dafür eignen sich Formulierungen wie: „Ich hätte mir gewünscht, dass …“ oder „Ich bin enttäuscht, weil ich gehofft hatte, dass …“ Ganz konkret könnte sich das so anhören: „Ich finde es schade, dass du unser Treffen abgesagt hast, weil ich mich schon darauf gefreut hatte, dich zu sehen.“ In dieser Formulierung wird die Aussage bei Ihrem Gegenüber nicht als Vorwurf ankommen, sondern lediglich als Ausdruck Ihres eigenen Gefühls des Bedauerns. Wenn Sie über sich selbst und Ihre persönliche Wahrnehmung sprechen, geht es nicht um Schuldzuweisungen, Sie vermitteln Ihrem Gegenüber lediglich Ihre Sicht der Dinge.
Eine klare und wertschätzende Kommunikation bietet für beide Seiten einen Gewinn: Sie haben Ihre Enttäuschung ausgedrückt und adressiert und Ihr Umfeld weiß genau, woran es bei Ihnen ist. Statt Frust und Groll aufkeimen zu lassen, vermitteln Sie mit dieser Art der Kommunikation das schöne Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit. Und ermutigen andere dazu, ebenso offen über Ihre Empfindungen zu sprechen, was den Kontakt aufrichtiger werden lässt und Missverständnisse schnell aus dem Weg räumt.
2. Gegengewicht bilden
Im Moment der Enttäuschung neigen wir dazu, alles schwarz zu sehen. Wir fühlen deutlich, was gerade nicht stimmt, welche Erwartung nicht erfüllt wurde und wo wir nicht das bekommen haben, was wir uns erhofft hatten. In der akuten Situation gewinnt die negative Perspektive auf unser Gegenüber die Oberhand, der Beziehungsfokus liegt auf dem Mangel – und wird damit der Realität nicht gerecht. Um aus dem Gefühl der Enttäuschung herauszukommen und wieder ins aktive Gestalten der Beziehung zu finden, hilft es, sich bewusst an zwei Dinge zu erinnern:
• Dankbarkeitspraxis: Lenken Sie den Fokus weg vom Mangel und der Enttäuschung hin zu Wertschätzung und Dankbarkeit: Wofür sind Sie normalerweise dankbar? Was schätzen Sie am anderen/ an der Beziehung/ an der Zusammenarbeit? Führen Sie sich vor Augen, welche positiven Gefühle Sie mit dem anderen verbinden und spüren Sie, wofür Sie dankbar sind.
• Gemeinsame Entwicklung: Statt an der Enttäuschung haften zu bleiben, richten Sie Ihren Blick auf das, was Sie gemeinsam gestalten wollen. Wohin möchten Sie die Beziehung entwickeln? Wie soll sie aussehen, wie möchten Sie sich miteinander fühlen? Und was können Sie selbst dazu beitragen?
3. Den Vorteil zu hoher Erwartungen ehrlich hinterfragen
In der Psychologie geht man davon aus, dass die Art, wie wir uns verhalten, immer einen Nutzen für uns hat – mag es auf den ersten Blick auch noch so destruktiv erscheinen. Wie beispielsweise das Verhalten, dass jemand stets zu hohe Erwartungen an seine Mitmenschen stellt. Dies hat zur Folge, dass ihr Scheitern und somit die eigene Enttäuschung programmiert sind.
Da Enttäuschungen eigentlich etwas sind, was wir vermeiden wollen, fragen Sie sich einmal ehrlich: Gibt es einen Vorteil für mich, wenn der andere immer wieder an meinen Erwartungen scheitert? Was habe ich davon? Habe ich vielleicht gar kein Interesse an einer Beziehung auf Augenhöhe? Ist meine Enttäuschung vielleicht sogar ein sinnvolles Mittel, um Abstand zu sichern oder den anderen meinen Frust spüren zu lassen und mich überlegen zu fühlen? Was hält mich dann trotzdem an der Person?
So hart es klingt, indem man immer wieder Erwartungen an andere stellt, die so hoch sind, dass sie nicht erfüllt werden können, sichert man sich die Rolle des Ewig-Überlegenen. Dadurch wird echte Nähe in der Beziehung verhindert und ein Machtgefälle aufrechterhalten. Wenn Sie selbst immer wieder mit Enttäuschungen zu kämpfen haben und andere nur selten Ihre Erwartungen erfüllen, liegt hier vielleicht ein Schlüssel für Ihre Selbsterkenntnis.
4. Loslassen lernen
Werden Ihre Erwartungen an eine bestimmte Person oder Beziehung immer wieder enttäuscht, sollten Sie sich fragen, ob Sie sich nicht eventuell in Ihrem Gegenüber täuschen. Haben Sie eine Vorstellung von der Person, der sie eigentlich gar nicht entspricht? Sehen Sie etwas in ihr, was sie gar nicht ist? Und stimmen daher Erwartung und Realität so selten überein?
Bei permanenten Enttäuschungen im Kontakt mit einer Person oder einer (Arbeits-)Beziehung gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder, man verändert seine Erwartungshaltung und lässt die (Ideal-)Vorstellung, die man im Kopf hatte, los – oder man nimmt Abstand von der Person/der Beziehung. Anders wird die Diskrepanz nicht zu überbrücken sein.
Besonders groß ist die Enttäuschung oft dann, wenn jemand mit seinem Verhalten entgegen unseren eigenen Werten oder moralischen Vorstellungen handelt. Auch hier ist es sinnvoll, sich ehrlich mit den eigenen Werten und denen Ihres Gegenübers auseinanderzusetzen. Weichen diese zu stark voneinander ab und ist eine Annäherung nicht möglich, ist es besser, die Beziehung loszulassen, um wiederkehrende Enttäuschungen zu vermeiden.
C: Erwartungen von anderen
1. Angenommene Erwartungen überprüfen
Nicht selten glauben wir, dass andere Menschen etwas von uns erwarten, wir nehmen an, auf eine bestimmte Art und Weise sein oder agieren zu müssen. Wir unterstellen dem anderen, dass er oder sie eine bestimmte Erwartungshaltung an uns hat, dabei kommt diese häuft gar nicht vom Gegenüber, sondern von uns selbst. Wir gehen davon aus, der andere würde etwas erwarten, was wir in dieser Situation erwarten würden oder aber, was wir einmal gelernt haben, was in bestimmten Kontexten erwünscht oder gewollt wird. Da die angenommenen Erwartungen von anderen jedoch nicht mit den tatsächlichen Erwartungen übereinstimmen müssen, ist es hilfreich, zu klären, was genau erwartet wird.
Fragen Sie offen nach, z. B. mit Formulierungen wie: „Also möchtest du, dass ich …“ oder „Habe ich es richtig verstanden, dass du dir wünschst, dass …“ oder auch „Was erwartest du von mir?“ Durch diese offene Kommunikation minimieren Sie den Raum für Missverständnisse und auch den Druck, dem Sie sich – möglicherweise vollkommen unnötig – ausgesetzt fühlen.
2. Abgrenzen lernen
Nur, weil jemand eine Erwartung an uns hat, bedeutet das nicht, dass wir diese auch erfüllen müssen. Oft wirkt unsere Reputation wie ein zweites Ego, das uns zwar nicht gehört, aber unheimlich viel Einfluss ausübt. Je nach Temperament fühlen sich einige Menschen verpflichtet, äußeren Erwartungen und Ansprüchen gerecht zu werden. Anderen hingegen fällt es leicht, sich abzugrenzen, allein auf ihr eigenes Empfinden zu vertrauen und sich an ihren eigenen Ansprüchen zu orientieren. Erinnern Sie sich daran: Sie selbst entscheiden, welche Erwartungen Sie annehmen, wie nah Sie die Anforderungen an sich heranlassen und welche Sie erfüllen möchten. Ihr Umfeld – Kollegen, Vorgesetzte, Freunde – darf ruhig Wünsche und Vorstellungen davon haben, wie Sie sich verhalten oder sein sollten, solange diese Erwartungen nicht zum inneren Zwang für Sie werden. Es lohnt sich, mutig zu sein und klar zu kommunizieren, welcher Mensch Sie sind und was man deshalb von Ihnen erwarten kann und was nicht. Der Vorteil: Ein individuelles Statement sorgt für Klarheit, Ruhe und Unabhängigkeit. Wenn Sie äußere Erwartungen häufig als Druck empfinden und lernen möchten, sich weniger davon beeinflussen zu lassen, empfiehlt es sich, an der Stärkung Ihres Selbstwerts zu arbeiten.
3. Nein sagen
Auch „Nein“ sagen ist eine wichtige Übung, wenn es darum geht, sich von Erwartungen anderer zu befreien. „Nein“ zur Organisation des nächsten Gruppengeschenks, „nein“ zum Aufräumen nach der Betriebsfeier, „nein“ zum fünften Projekt, das eigentlich in den Arbeitsbereich eines Kollegen gehört. Vielleicht erfüllen Sie damit dann nicht länger die Erwartungen, die Ihr Umfeld an Sie stellt und die Rolle, die Sie bisher ausgefüllt haben – aber das ist in Ordnung. Gleichzeitig geben Sie Ihren Mitmenschen die Chance, sich selbst weiterzuentwickeln und – bezogen auf das letzte Beispiel – an ihrem eigenen Zeitmanagement, ihrer Erwartung an andere und sich selbst zu arbeiten. Die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes „Nein“ ist die Kenntnis über eigene Vorlieben, Bedürfnisse und Energie-Levels. So kann sich vor allem diejenige gut vor Erwartungen anderer schützen, die sich selber sehr gut kennt und sich die Erlaubnis erteilt, vor allem sich selbst gerecht zu werden.
Berechtigte Erwartungen
Es gibt Fälle, in denen Erwartungen berechtigt und angemessen sind, nämlich dann, wenn sich alle Beteiligten darauf verständigt haben. Das gilt beispielsweise für Versprechen, Verabredungen, Absprachen, Vereinbarungen oder Verträge – hier stellt die Erfüllung von Erwartungen eine Augenhöhe in der Beziehung her und in diesem Sinne haben sie Berechtigung. Sollte jemand wiederholt Absprachen brechen, ist die Vertrauensgrundlage der Beziehung infrage zu stellen, denn diese beruht auf der Erwartung, dass sich alle an die gemeinsamen Absprachen halten.
Fazit
Liegt die Lösung also darin, sich von allen Erwartungen zu befreien, nach dem Motto: Wer keine Erwartungen hat, kann auch nicht enttäuscht werden?! Mitnichten. Ein solches Ziel ist nicht nur unrealistisch, ihm wohnt auch schon vorab eine Enttäuschung inne. Denn wer keine Wünsche, Bedürfnisse, Vorstellungen und eben Erwartungen an sich selbst, andere und das Leben hat, hat auch keine Hoffnung. Warum sollten wir uns sonst auf eine neue Stelle bewerben, wenn wir nicht auch die Hoffnung, also die Erwartung hätten, eine Zusage zu erhalten? Warum sollten wir uns in den Dating-Dschungel wagen, wenn da nicht auch die Hoffnung wäre, dass wir dort einem sympathischen Menschen begegnen?
Das entscheidende Kriterium ist nicht, OB man Erwartungen hat, sondern wie groß sie sind und wie man damit umgeht, wenn sie nicht erfüllt werden. Das zu lernen, ist ein lohnenswerter Prozess zu mehr Gelassenheit, Großzügigkeit und Lebenszufriedenheit, auf dessen Weg sich die eigene Erwartungshaltung automatisch verändert – hin zu einer realistischeren, die seltener zu Enttäuschungen führt und stattdessen Platz lässt für echte Beziehungsgestaltung und positive Überraschungen.
01.06.2022