Hochsensibilität – was besonders empfindsame Menschen auszeichnet
von Ragnhild Struss
Wer sich manchmal überfordert fühlt, ist gleich hochsensibel? So einfach ist es nicht. Ragnhild Struss beleuchtet das Konzept der Hochsensibilität und zeigt, wie sehr feinfühlige Menschen ihr Leben so gestalten können, dass es ihnen guttut.
Das Thema Hochsensibilität erhält in den letzten Jahren verstärkt mediale Aufmerksamkeit, was vermutlich auch daran liegt, dass es den Nerv der Zeit trifft: In unserer stetig komplexer werdenden Welt mit digitaler Dauerberieselung, schneller Taktung und einem generell empfundenen „Zuviel von allem“ fühlen sich immer mehr Menschen überreizt, überfordert und ausgebrannt. Nicht jede*r von ihnen ist gleich zur Gruppe der HSP („highly sensitive person(s)“) zu rechnen, nur weil er*sie sich manchmal von seinem Alltag überlastet und gestresst fühlt. So sind je nach Studie maximal 20 Prozent der Bevölkerung hochsensibel; manche Wissenschaftler gehen lediglich von 1 bis 3 Prozent aus. Was aber bedeutet es wirklich, hochsensibel zu sein? Und wie können hochsensible Menschen ihr Leben so gestalten, dass sie zufrieden sind und ohne allzu große Energieverluste ihre Stärken ausleben können?
Was in der Wissenschaft über Hochsensibilität bekannt ist
Der Begriff Hochsensibilität (auch Hypersensibilität oder Hypersensitivität) beschreibt ein Phänomen, das erstmals in den 90er Jahren von der US-amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron vermehrte wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhielt und untersucht wurde. Es steht für eine Charaktereigenschaft, die von erhöhter sensorischer Verarbeitungssensitivität geprägt ist: Betroffene sind laut Aron sowohl empfänglicher für subtile Reize, die andere gar nicht wahrnehmen, als auch aufgrund dieser Disposition leicht übererregbar. Dabei kann es sich um alle möglichen Arten von Reizen handeln. Während der Begriff Hypersensitivität sich im medizinischen Sprachgebrauch vor allem auf eine Überempfindlichkeit auf körperlicher Ebene bezieht – beispielsweise in Form von Licht- oder Geräuschempfindlichkeit oder Neigung zu Allergien und Unverträglichkeiten bestimmter Stoffe –, schließt der allgemeinere Begriff Hochsensibilität außerdem auch eine psychische bzw. emotionale Empfindlichkeit mit ein.
Das Konzept ist wissenschaftlich noch umstritten, da es bislang vor allem auf Selbstzuschreibungen beruht. Auch ist nicht ganz trennscharf einzuordnen, welche Aspekte eindeutig zu einer möglichen Hochsensibilität gehören und welche mit anderen Persönlichkeitseigenschaften wie zum Beispiel Introversion oder hohen Neurotizismuswerten zusammenhängen. Dennoch finden sich viele in dem Thema wieder, und dass einige Menschen sensibler auf Reize und Lebensumstände reagieren als andere, ist tatsächlich messbar und im Alltag zu beobachten. Aron nutzt dafür die Orchideen-Löwenzahn-Metapher: So vergleicht sie die besonders sensitiven Personen mit Orchideen, die unter optimalen Bedingungen besonders gut gedeihen, unter ungünstigen Umständen jedoch außergewöhnlich schlecht. „Normal“ sensible Menschen hingegen sind wie der Löwenzahn, der weniger empfindlich auf seine Umwelt reagiert, widerstandsfähig ist und praktisch überall gedeihen kann.
Welche Vor- und Nachteile bringt es mit sich, hochsensibel zu sein?
Obgleich es wissenschaftlich momentan nicht ganz eindeutig bestimmt werden kann, ob jemand eine „highly sensitive person“ ist, gibt es ja kein falsches Erleben, und so haben Menschen, die sich hochsensibel fühlen, bestimmte Herausforderungen zu managen. Ihnen werden verschiedene Eigenschaften zugeschrieben, die Segen und Fluch zugleich zu sein scheinen. Dabei müssen nicht alle Aspekte auf einen hochsensiblen Menschen zutreffen – während einige Personen in nahezu jeder Hinsicht überdurchschnittlich empfindlich sind, bezieht sich die erhöhte Feinfühligkeit bei anderen nur auf bestimmte Bereiche. Folgende Eigenschaften können charakteristisch für Hochsensibilität sein:
Niedrige Reizschwelle und rasche Überlastung
Dieses Merkmal macht den Kern der Hochsensibilität aus. Wer bemerkt, dass er schneller überreizt ist als die meisten anderen in der gleichen Situation, könnte in dieser Hinsicht hochsensibel sein. Dabei kann es sich um Reize verschiedenster Natur handeln: Einigen Menschen ist es sehr schnell zu hell und sie haben das dringende Bedürfnis, zum Beispiel einen Raum abzudunkeln oder ein grelles Licht auszuschalten. Andere sind leicht genervt von lauter Musik bzw. empfinden Geräusche bereits als zu intensiv, wenn andere sie noch als angenehm wahrnehmen. Möglicherweise ist auch die Haut besonders sensibel, reagiert rasch auf kratzige Kleidung, Chemikalien oder als „zu fest“ wahrgenommene Berührungen, oder es werden bestimmte Nahrungsmittelinhaltsstoffe schlecht vertragen. Doch auch zwischenmenschliche „Reize“ im Rahmen von Kommunikation oder auch einfach der bloßen Anwesenheit in einem Raum mit anderen können hochsensible Menschen überreizen: Sie spüren selbst subtile Schwingungen und fühlen sich beispielsweise unwohl, wenn sie latente Aggressionen wahrnehmen, oder sie leiden mit jemandem mit, der gerade Schmerz empfindet. Dadurch können sie meist leichter verletzt werden als andere. Der Nachteil dieser herabgesetzten Reizschwelle liegt eben darin: Es wird alles schnell „zu viel“ und verursacht für die hochsensible Person folgend Stress, Unwohlsein oder Verletzung mit entsprechendem Bedürfnis nach Rückzug. Der große Vorteil liegt jedoch darin, dass ihrem ultrawachsamen System kein Detail entgeht und sie dadurch zum Beispiel besonders einfühlsam auf andere Menschen eingehen können oder selbst subtilen Sinneswahrnehmungen sehr viel Freude und Genuss abgewinnen können. Die herabgesetzte Reizschwelle ist übrigens eine Eigenschaft, die Hochsensible mit introvertierten Menschen teilen. So sind schätzungsweise auch 70 Prozent der hochsensiblen Personen gleichzeitig introvertiert.
Erhöhte Wahrnehmung und Offenheit
Aus den Vorteilen der niedrigen Reizschwelle ergibt sich im Positiven eine sehr große Offenheit: Nahezu alles wahrnehmen zu können ist schließlich auch so, als fehle ein gewisser „Panzer“, der vor äußeren Einflüssen abschirmt, bzw. ein Filter, der einiges draußen hält. So korreliert Hochsensibilität mit der Dimension „Offenheit für Erfahrungen“ des berühmten Persönlichkeitsmodells Big Five. Dabei liegt unter anderem eine erhöhte Sensitivität gegenüber ästhetischen Aspekten vor. Es braucht schließlich eine gewisse Feinfühligkeit, um die einzelnen Nuancen eines hervorragenden Rotweins herauszuschmecken, von Musik oder Poesie zutiefst im Inneren berührt zu werden oder die verborgene Schönheit eines Tautropfens auf einem Grashalm inmitten des Alltagsgetümmels wertzuschätzen. Für derartige Empfindungen sind Hochsensible prädestiniert und können viel Glück daraus schöpfen. Gleichzeitig wird Hochsensibilität selbst mit einer besonderen kreativen Veranlagung, mit Phantasie und Ideenreichtum in Verbindung gebracht. So verfügen viele Künstler, Autoren, Musiker und Philosophen über besonders feine Antennen. Einige Menschen, die sich selbst als hochsensibel betrachten, scheinen eine Art „sechsten Sinn“ zu haben, lesen aus der Atmosphäre sehr viel heraus und sind besonders intuitiv veranlagt. Sie „wissen“ Dinge scheinbar aus dem Nichts heraus, weil ihr Geist zwischen den Zeilen etwas erkennt, das andere übersehen – vielleicht eine Mikroexpression im Gesicht ihres Gegenübers, die seine wahre Einstellung für eine Millisekunde offenbart, oder eine unterdrückte Attraktion zwischen zwei Menschen, denen diese selbst noch gar nicht bewusst ist. In einem wertschätzenden privaten und dem passenden beruflichen Umfeld ist diese Eigenschaft Hochsensibler eine wahre Stärke.
Psychische Labilität
Hochsensibilität hängt – wenn nicht genug Schutz- und Erholungsraum für die Regulation des Erregungsniveaus eingeräumt wird – nachvollziehbarerweise auch häufig mit geringer psychischer Widerstandsfähigkeit zusammen. Im Big-Five-Modell korreliert die Eigenschaft mit erhöhten Neurotizismus-Werten und laut Elaine Aron bringt sie auch eine Neigung zu Schüchternheit und Verhaltenshemmung mit sich, das heißt, hochsensible Personen investieren viel Energie in die Vermeidung von Situationen, die unangenehme Überreizung zur Folge haben könnten. Die schnell erlebte Übererregung sorgt auf körperlicher Ebene für eine gesteigerte Ausschüttung an Stresshormonen, was für Erschöpfung sorgt und viel Zeit zum Ausruhen erfordert. Auch ein unbedachter Kommentar oder ein abschätziger Blick können hochsensible Personen zutiefst verunsichern und oft auch ihren Selbstwert ins Wanken bringen. Es ist daher extrem wichtig, sich als hochsensibler Mensch ein Umfeld zu suchen, in dem möglichst wenig potenzielle Stressfaktoren gegeben sind, beispielsweise ein Job, in dem die Feinfühligkeit wertgeschätzt wird, sowie ein Kreis lieber Menschen, die einen in seiner Empfindsamkeit annehmen und bereit sind, in manchen Bereichen Rücksicht zu nehmen. Außerdem können Sie selbst etwas dafür tun, Ihren Selbstwert zu stärken, sich auf positive Weise von anderen abzugrenzen und Ihre Resilienz zu steigern.
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Die wichtigsten Tipps für Hochsensible
Hochsensibel zu sein, ist eine Frage des Grades, nicht der Ja-oder-Nein-Einteilung. So fällt Ihnen vielleicht auf, dass Sie in einem bestimmten Bereich besonders feinfühlig sind, in einem anderen jedoch nicht, oder dass es bei Ihnen tagesformabhängig ist, wie resilient Sie dem Leben begegnen können. Es ist daher nicht so wichtig, sich definitiv das Siegel „hochsensibel“ geben zu können, sondern gegenüber sich selbst aufmerksam zu sein und herauszufinden, was Ihnen guttut und was nicht. Suchen Sie sich also aus den folgenden Empfehlungen diejenigen aus, die Ihnen persönlich nützlich erscheinen.
1. Die eigene Hochsensibilität annehmen
Hochsensibilität ist keine Krankheit, sondern ein wertvolles Persönlichkeitsmerkmal. Entsprechend ist sie auch nicht zwingend etwas Behandlungsbedürftiges – selbstverständlich können Sie natürlich psychologische Beratung in Anspruch nehmen, wenn Sie unter einem oder mehreren Aspekte Ihrer gesteigerten Empfindsamkeit stark leiden. Aber fühlen Sie sich nicht stigmatisiert, nur weil Sie besonders sensibel sind und möglicherweise von anderen deswegen bereits negative Kommentare oder verständnislose Reaktionen bekommen haben. Sie sind wunderbar und genau richtig so, mit Ihrer besonderen Empfindsamkeit und allen Glücksmomenten und Herausforderungen, die sich daraus ergeben! Sich selbst genauso anzunehmen und zu mögen, wie Sie sind, ist die Basis von allem. Seien Sie also stolz in Bezug auf Ihre Veranlagung, schätzen Sie das Schöne, das daraus entsteht und seien Sie geduldig, großzügig und liebevoll mit sich selbst, wenn Sie unter den Folgen der Überreizung leiden und sich kraftlos fühlen.
2. Achtsam mit sich sein und sich anderen mitteilen
Was für jeden Menschen gilt, kann bei Hochsensiblen nicht genug betont werden: Es ist ungemein wichtig, dass Sie sich selbst und Ihre Bedürfnisse sehr gut kennenlernen, um bewusst in einer Weise darauf reagieren zu können, die Ihnen guttut und Entspannung schafft. Sie profitieren dazu besonders von einer Achtsamkeitspraxis wie Meditation, durch die Sie sich angewöhnen, Ihre emotionalen Reaktionen auf äußere Geschehnisse und Begebenheiten erst einmal nur wertfrei wahrzunehmen, statt sich von ihnen triggern zu lassen, in Panik zu geraten oder anderweitig überzureagieren. Betreiben Sie mit einem kleinen Notizbuch, was Sie den ganzen Tag über dabei haben, für eine bis zwei Wochen eine Selbstbeobachtung und notieren Sie, wie Sie auf Reize reagieren. Halten Sie dabei Dinge fest wie „Baustellenlärm im Büro hat mich extrem gereizt, musste Ohropax verwenden“ oder „Fühlte mich sehr gestresst nach der Fahrt im übervollen Bus“, aber auch positive Aspekte wie „Hatte Freudentränen in den Augen, als mir meine Freundin eine rührende Geschichte erzählte“ oder „Fühlte mich so entspannt beim langsamen Spaziergang durch den prasselnden Regen“. So erkennen Sie, welche Aspekte Sie immer wieder herausfordern und wo wiederholt auftretende Stressoren Sie an Ihre Grenzen bringen, aber auch, welche Dinge Ihnen Glücksmomente bescheren. Überlegen Sie, wie Sie stressige Situationen künftig entspannter gestalten können, zum Beispiel durch einen Wechsel ins Homeoffice, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren o. ä.
Ein ebenso wichtiger Aspekt dabei ist es, dass Sie Ihr Umfeld über Ihre Veranlagung informieren. Sie müssen nicht sagen, dass Sie sich für hochsensibel halten – am besten benennen Sie einfach konkret, was Sie in welchen Situationen überreizt oder auslaugt, und bitten um etwas Verständnis. Das führt dazu, dass nicht nur Sie selbst sich wohler fühlen, wenn andere Rücksicht auf Sie nehmen, sondern dass auch Ihre Lieben Ihr Verhalten wie Rückzug oder Abschottung besser einordnen können und sich nicht vor den Kopf gestoßen fühlen. Verstellen Sie sich auf keinen Fall nur anderen zuliebe! Wenn Sie beispielsweise eine Freundin zu einem ausgedehnten Shoppingbummel mitnehmen möchte, Sie jedoch das Gewusel und die laute Musik in den Läden total stresst, sagen Sie ihr das. Menschen, die an Ihrem Wohlwollen interessiert sind, werden für das meiste Verständnis haben oder zumindest zu Kompromissen bereit sein.
3. Hochsensibilität nicht als Legitimation für permanenten Rückzug benutzen
Bei aller Rücksichtnahme auf die eigene Veranlagung: Bitte verwenden Sie Ihre Hochsensibilität nicht als „Ausrede“, um sich vor sämtlichen Herausforderungen des Lebens zu drücken, sich aus allen sozialen Kontakten herauszuhalten oder gar eine übertriebene Sonderbehandlung von anderen einzufordern. Denken Sie daran, dass es zum Leben dazugehört, sich hin und wieder unbekannten, herausfordernden oder beängstigenden Situationen zu stellen, um daran zu wachsen und sich weiterzuentwickeln. Auch als hochsensibler Mensch dürfen Sie sich solchen Gegebenheiten ab und zu aussetzen – vor allem, wenn die Sache Ihnen eigentlich am Herzen liegt. So wollen Sie vielleicht eine aufregende Reise mit Ihrem Partner unternehmen, auch wenn einige Aspekte am Reisen Sie leicht stressen, oder Sie nehmen an einem trubeligen und für Sie anstrengenden Networking-Event teil, weil Sie Ihr Herzensprojekt bekannter machen möchten. Sagen Sie also nicht prinzipiell zu allem, was unangenehm erscheint, nein, sondern fragen Sie sich jedes Mal „Ist es mir das wert?“ und entscheiden Sie individuell. Wahrscheinlich verbringen Sie sehr gerne Zeit in Ruhe alleine zuhause – doch auch Sie brauchen sozialen Konakt. Werden Sie also nicht zu sehr zum Einsiedlerkrebs und tauschen Sie sich regelmäßig mit Ihren Liebsten aus. Und während Sie sich Verständnis von anderen wünschen, geben Sie dieses ebenso zurück: Mit dem Argument „Ich bin hochsensibel, daher kann ich das nicht machen!“ sich vor Verpflichtungen zu drücken oder gar andere zu manipulieren, ist unfair gegenüber denen, die gerne und viel Rücksicht auf Sie nehmen. Sorgen Sie für sich, jedoch ohne sich in die Rolle des „schwachen Opfers“ zu begeben, wegen dem alle anderen auf rohen Eiern gehen müssen.
Fazit
Im Trend der Hochsensibilität hielten sich in den letzten Jahren plötzlich fast alle für besonders empfindsam – sei es, weil sie die positiven Eigenschaften Hochsensibler wie hohe Empathie und Kreativität für sich in Anspruch nehmen wollten, sei es, weil sie sich wie jeder Mensch ab und an überfordert fühlen. Doch die Veranlagung zur gesteigerten Sensitivität ist weder ein anzustrebendes Ideal noch ein abzulehnender Makel! Es handelt sich dabei einfach um eine angeborene Persönlichkeitseigenschaft, die wie jeder Charakterzug erfreuliche und weniger erfreuliche Seiten mit sich bringt. In diesem Sinne wäre es schön, wenn alle Seiten Toleranz und Verständnis füreinander aufbringen und die jeweiligen Unterschiede im Bereich der Reizempfindlichkeit großzügig bei sich und anderen annehmen – sowohl die Orchideen als auch die Löwenzähne dieser Welt.
14.06.2021