Niemals gut genug? Warum Perfektionismus keine Lösung ist
von Ragnhild Struss
Das Streben nach Perfektion kann motivieren und zu Höchstleistungen antreiben. Doch häufig steht Perfektionismus den eigenen Zielen im Weg. Ragnhild Struss zeigt auf, warum „gut genug und zufrieden“ besser ist als „nahezu perfekt und unzufrieden“ und wie wir lernen können, realistischere Ansprüche zu entwickeln.
Ein Geständnis gleich vorab: Mit dem Anspruch einer Perfektionistin hätte dieser Artikel nie erscheinen können – oder zumindest erst zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt. Das gilt für die meisten Themen, die in unserem Blog behandelt werden: Psychologische Phänomene und Fragestellungen auf ein paar Seiten in all ihrer Komplexität abzubilden und dabei gleichermaßen die Genauigkeit der Fakten und die Aktualität der Forschung berücksichtigen zu wollen, möglichst noch mit einer neuen Perspektive auf die dargestellten Inhalte, erscheint beinahe unmöglich. Da hilft nur eins: begrenzen. Die Fragen, die beantwortet werden sollen und den Umfang des Textes. Aber auch das Streben nach Perfektion. Der eigene hohe Anspruch darf richtungsweisend sein, aber die Gefahr daran zu scheitern, muss gebannt werden. Für diejenigen, die Letzteres schwer wegstecken und ihre eigene Ambition letztendlich als größte Hürde erleben, kann es hilfreich sein, sich dem Thema Perfektionismus zu widmen – selbstverständlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Im ersten Teil dieses zweiteiligen Blog-Artikels beleuchten wir die theoretischen Hintergründe: Was ist Perfektionismus? Wie entsteht er? Wie wirkt perfektionistisches Verhalten auf das Umfeld und in welcher Form kann Perfektionismus auch ein hilfreiches Werkzeug sein?
Was ist Perfektionismus?
Unter Perfektionismus versteht man das gewissenhafte Streben nach Vollkommenheit auf der einen und penible Fehlervermeidung auf der anderen Seite. Wer perfektionistisch veranlagt ist, wird von dem Drang geleitet, makellos sein zu wollen bzw. zu müssen. Ob im Beruf oder im privaten Kontext, Perfektionist*innen haben extrem hohe Ansprüche an sich selbst, jegliches Verhalten wird auf der Leistungsebene an einer stetig wachsenden 100% Marke gemessen. Es wird ein innerer Zwang erlebt, beruflich erfolgreich, fürsorgliche Eltern, sportlich, attraktiv, immer für Freunde erreichbar und dabei noch entspannt und energiegeladen zu sein – nicht unbedingt alles gleichzeitig, sondern vor allem in den als subjektiv wichtig betrachteten Lebensbereichen. Charakteristisch ist, dass es kein „genug“ gibt, Perfektionist*innen streben stetig nach mehr: bessere Leistung, höhere Anerkennung, größerer Erfolg, gesteigertes Gehalt. Das Gefühl, dass etwas oder man selbst „gut genug“ ist, existiert nicht. Ganz gleich, was gerade erreicht wurde, werden die Ansprüche noch höhergeschraubt. Denn eine gelungene Zielerreichung stimmt Perfektionist*innen eher misstrauisch: „War ich etwa nachlässig bei der Bestimmung meines Ziels? Habe ich es mir zu leicht gemacht?“ sind typische Folgefragen. Außerdem kann sich ein Hochstapler-Gefühl einschleichen, was den Erfolg auf externe Faktoren statt auf das eigene Vermögen zurückführt und letztlich auch dazu führt, sich in Folge von Errungenschaften noch mehr anzustrengen.
Auf der Verhaltensebene legen Perfektionist*innen sich auf, Vollkommenheit im Sinne eines selbstgesteckten Ideals zu erreichen, also Handlungen fehlerfrei auszuführen. Diese Haltung kann sich auch auf moralische Prinzipien, tugendhaftes Verhalten und gutes Benehmen beziehen. Bei einer privaten Einladung beispielsweise würden Perfektionist*innen alles dafür tun, um pünktlich, perfekt zurechtgemacht, mit einem besonderen Gastgeschenk ausgestattet und noch dazu bei bester Laune bei den Gastgebern zu erscheinen und sich während des gesamten Abends bemühen, in jedem Sinne ein perfekter Gast zu sein. Als Vorlage für das Verhalten dient die Vorstellung, die die betreffende Person von einem idealen Gast hat, dieser ist in ihren Augen z. B. unterhaltsam, hilfsbereit, bescheiden und wertschätzend. Perfektion bezogen auf Moral und Tugendhaftigkeit könnte auch bedeuten, dass jemand sich selbst auferlegt, anderen gegenüber in jeglichem Kontext und zu jeder Zeit hundertprozentig loyal, treu, aufrichtig und fair zu sein. Auch das wäre ein Anspruch, der kaum zu erreichen ist, alleine schon deshalb, weil es in vielen Situationen faktisch nicht möglich ist, allen Beteiligten gleichermaßen gerecht zu werden.
Ein Merkmal des Perfektionismus wird hier sehr deutlich: Wer sich selbst derart hohe Ziele steckt, droht permanent, an den eigenen Ansprüchen zu scheitern und verhindert damit quasi selbst, zufrieden mit sich und der eigenen Leistung zu sein – oder mit dem, was ihm von anderen entgegengebracht wird. Noch etwas Charakteristisches zeigt sich in diesen Beispielen: Perfektionismus kennt keine Zwischentöne. Wenn die Messlatte so hoch angesetzt wird, dass etwas nur gut ist, wenn es perfekt ist, und zwar immer und überall, dann kann der perfektionistisch veranlagte Mensch entweder sein Ziel erreichen oder aber er hat komplett versagt. Zwischen dem Ist-Zustand und dem zu erreichendem Soll-Zustand wird innerlich stets ein starkes Ungleichgewicht empfunden. Der Umgang von Perfektionist*innen mit sich selbst ist extrem streng, es besteht ein starkes Über-Ich – jene psychische Struktur, in der soziale Normen, Werte, Gehorsam und Moral angesiedelt sind bzw. in der das Gewissen als Gebots- und Verbotsinstanz liegt. Daraus leitet sich der übermäßig starke innere Kritiker bzw. innere Richter der Perfektionist*innen ab. Im Inneren dieser Personen wird der anzustrebende Zustand nicht als Möglichkeit erlebt, sondern als Muss, was zur Folge hat, dass die Diskrepanz zwischen Ist und Soll für Perfektionist*innen schwer auszuhalten ist. Dies führt zu innerlich selbstabwertender Kritik und erzeugt starken intrapsychischen Druck. Perfektionismus kann demnach als Kompensationsstrategie begriffen werden gegen den Gedanken, nicht gut genug zu sein.
Wie entsteht Perfektionismus?
Um zu verstehen, wie Perfektionismus entstehen kann und welche Mechanismen sich dahinter verbergen, ist eines zu bedenken: Perfektionist*innen freuen sich nur in seltensten Fällen an der Vollkommenheit. Auf das Gefühl der Freude ist das Streben nicht ausgerichtet, obgleich es so scheinen mag. Sondern die Vollkommenheit zielt auf Unangreifbarkeit, Sicherheit und Zugehörigkeit ab. Perfektionismus wird in der Forschung auch als „angstvolles Vermeidungsverhalten“ beschrieben. Entscheidend ist die Angst, keine Existenzberechtigung zu haben, wenn nicht Tadelloses vorgewiesen werden kann. Der Perfektionist ist somit – zumindest in den als relevant angesehenen Lebensbereichen – ein unsicherer Mensch, dessen innerer Antrieb die panische Angst vor der eigenen Fehlerhaftigkeit ist.
Ob ein Mensch perfektionistische Verhaltensweisen an den Tag legt, entscheidet sich bereits in der Kindheit. Verantwortlich für die Entstehung von Perfektionismus sind sowohl genetische Veranlagung als auch Umwelteinflüsse und Sozialisation. So kann beispielsweise eine genetisch bedingte Tendenz zum Perfektionismus verstärkt werden, wenn das Umfeld, also Eltern, Geschwister oder Lehrer*innen, zu hohe Erwartungen an das Kind stellen, Erfolge eher im Ergebnis als im Schaffensprozess oder in der Bemühung sehen und loben oder aber Wärme und Zuneigung nur dann gezeigt werden, wenn entsprechend fehlerlose Leistungen erbracht wurden. Dann verinnerlicht das Kind: „Wenn ich tadellos leiste, werde ich geliebt“, was dazu führen kann, dass es später im Leben versuchen wird, über „perfekte“ Ergebnisse Anerkennung und Wertschätzung von anderen zu empfangen. Durch diese Prägung verwischen die Ebenen von Verhalten und Identität: Eigene Fehler werden nicht prozessbezogen als selbstverständliche Lernerfahrungen gewertet, sondern führen im Extremfall zu dem Gefühl, als gesamte Person „falsch“ zu sein.
Wenn Kinder beispielsweise die Erfahrung machen, bei unerwünschtem Verhalten von ihren Bezugspersonen bestraft oder abgelehnt zu werden, kann das dazu führen, dass sie im Erwachsenenleben besonderen Wert darauf legen, sich strikt an Regeln und Normen zu halten, um eine mögliche Bestrafung zu vermeiden. Dieses erlernte Verhalten zeigt sich dann in übertriebener Genauigkeit beim Ausführen von Tätigkeiten oder auch – im positiven Sinne – in einer perfektionistischen, fehlerfreien Arbeitsweise. Perfektionismus kann demnach als Selbstschutzstrategie verstanden werden, die vor unangenehmen Situationen, wie z. B. scheitern, blamieren, kritisiert werden und damit zusammenhängenden Gefühlen wie Scham oder Frust bewahren soll. Hinter perfektionistischem Verhalten steckt oft Versagensangst oder das sogenannte Impostor-Syndrom, also die Angst, aufzufliegen und als Hochstapler enttarnt zu werden.
Wie wirkt perfektionistisches Verhalten auf das Umfeld?
Im Rahmen der Transaktionsanalyse, einer psychologischen Theorie von Eric Berne, werden fünf sogenannte „innere Antreiber“ beschrieben, also handlungsleitende innere Überzeugungen, die unbewusst unser Denken und Verhalten beeinflussen. Meist entwickelt sich bereits in der Kindheit die Tendenz, einen oder zwei von ihnen besonders häufig einzusetzen. Handeln wir in ihrem Sinne, fühlen wir uns „in Ordnung“ und liebenswert. Der Antreiber „Sei perfekt!“ wirkt sich nicht nur auf das eigene Erleben von Perfektionist*innen aus, sondern macht sich auch im Kontakt mit ihren Mitmenschen bemerkbar. Typische Überzeugungen sind: „Ich darf nie Fehler machen.“, „Ich darf nie zufrieden sein, etwas ‚gut genug‘ finden und mich darauf ausruhen.“, „Ich muss immer die Kontrolle behalten und dafür sorgen, dass alles hundertprozentig stimmt.“ oder „Ich muss mich immer vorbildlich verhalten.“
Der Antreiber sorgt bei denjenigen, die ihn verspüren, häufig für einen ernsten Gesichtsausdruck und eine angespannte Körperhaltung. Gepaart mit dem ambitionierten Auftreten, führt diese Ausstrahlung dazu, dass sich andere – oft indirekt und alleine durch die Gegenwart der betreffenden Person – gemaßregelt, abgewertet, unter Druck gesetzt fühlen bzw. Angst haben, nicht dem Anspruch zu entsprechen und in den Augen der Perfektionistin minderwertig zu sein. Andere spüren die hohe Erwartungshaltung der Perfektionist*innen und geraten dadurch nicht selten in eine Habachtstellung, um ja nichts falsch zu machen. Zudem kann das Streben nach Perfektion Menschen mit diesem Antreiber unnahbar wirken lassen. Es wird eine Distanz aufgebaut, die den Zugang und den Beziehungsaufbau erschwert. Weil Fehlerhaftigkeit und Schwäche im Kontakt mit anderen vermieden werden sollen, spürt das Umfeld von Perfektionist*innen oft nicht, dass diese innerlich sehr verletzlich sind und Feedback stets persönlich nehmen.
Gleichzeitig kann von Perfektionist*innen ein motivierendes Signal ausgehen. Mit ihrem Ansporn, sich immer zu verbessern, und jeden Tag Höchstleistungen zu erbringen, zeigen sie anderen, dass eigene Weiterentwicklung möglich ist.
Wie Perfektionismus nutzen kann …
In der Psychologie unterscheidet man zwischen funktionalem und dysfunktionalem Perfektionismus. Während die funktionalen Perfektionist*innen danach streben, Spitzenleistungen zu erzielen und sich dann auch daran erfreuen können, leiden Dysfunktionale an den Aspekten, die vermeintlich nicht gelungen sind. In gesunder Ausprägung kann Perfektionismus also bewirken, dass jemand leistungsorientiert ist und sein Bestes gibt, um ein Ziel zu erreichen. Wer den Anspruch hat, Perfektion zu erlangen, für den sind Fleiß, Disziplin und harte Arbeit selbstverständlich, was zur Folge haben kann, dass die Resultate tatsächlich sehr hohe Standards erfüllen. Das kann wiederum, wenn Engagement und Ehrgeiz sich auszahlen, zu beruflichen und privaten Erfolgen führen. Im positiven Sinne dient ein „Sei perfekt!“-Antreiber also dazu, gründlich, gewissenhaft und vorausschauend zu arbeiten, sehr gut organisiert zu sein und leicht komplexe Systeme zu begreifen. Menschen mit diesem Antreiber übernehmen viel Verantwortung, haben eine hohe Planungskompetenz, einen Blick für die Details und nicht selten Vorbildfunktion für andere. Bei Aufgaben, die ein hohes Maß an Konzentration und Genauigkeit verlangen, sind sie in ihrem Element. Der Unterschied zum dysfunktionalen Perfektionismus besteht darin, dass die Betreffenden auch damit leben können, wenn etwas einmal nicht so gut gelingt, Fehler gemacht werden oder ein Ergebnis nicht so ausfällt, wie gewünscht.
Perfektionismus kann außerdem zur stetigen Weiterentwicklung motivieren, sowohl fachlich als auch persönlich. Wer immer bereits das nächste Ziel vor Augen sieht und eine Vorstellung davon hat, was noch alles erreicht werden kann, investiert immer neue Energie in die Verfolgung seiner Ziele. Das kann beispielsweise dazu führen, komplexe Zusammenhänge immer gründlicher zu durchdringen und immer besser in einem Themenfeld oder einer Tätigkeit zu werden bis hin zum Expert*innen-Status. Außerdem haben Perfektionist*innen Vorbildcharakter und spornen mit ihrem hohen Anspruch auch ihr Umfeld zu Höchstleistung an. Es zeigt sich also: Je nach Ausprägung kann viel positive Kraft im Perfektionismus stecken – wie so oft, geht es um das gesunde Maß.
Im zweiten Teil dieses Artikels widmen wir uns der anderen Seite der Medaille und beleuchten, welche negativen Konsequenzen das Streben nach Perfektion haben kann. Außerdem verraten wir, welche Tipps dabei helfen können, Perfektionismus zu überwinden und einen guten Umgang mit dem eigenen Anspruch zu finden.
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21.03.2022