Sweet little lies: Warum wir uns selbst & andere so oft belügen
von Pia Lenk
Angeblich lügen wir Menschen täglich rund 200 Mal. Ob kleine, große oder Notlügen wird dabei nicht unterschieden. Aber was hat es mit der Lüge eigentlich auf sich? Getäuscht wird schon in der Tierwelt – ist es schlicht ein natürlicher Instinkt, der uns zur Unehrlichkeit verleitet? In welchen Situationen lügen wir? Und wann wäre es eigentlich besser, bei der Wahrheit zu bleiben?
Lügen, um dazuzugehören: ein Selbsterhaltungstrieb?
Andere zu täuschen, gehört für Tiere zum natürlichen Verhalten. Sei es das Chamäleon, das seine Farbe verändert, oder das Erdmännchen, das sich totstellt, um sich vor Feinden zu schützen. Der Selbsterhaltungstrieb greift hier ganz automatisch. Gleiches gilt, wenn die Gefahr besteht, aus dem sicheren Rudel, der Herde oder dem Schwarm ausgestoßen zu werden – denn auch das würde das Leben eines Rudeltieres gefährden.
Bei uns Menschen geht es im Alltag zwar seltener um Leben oder Tod, aber auch wir sind gemäß dem evolutionären Prinzip des Überlebens im Miteinander auf die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe angewiesen. Und so kämpfen wir, wenn es sein muss, wie der Wolf im Rudel um Zugehörigkeit. Wenn wir also Gefahr laufen, durch Äußern der Wahrheit aus einer Gruppe bzw. einem Freundeskreis ausgestoßen zu werden, dann riskieren wir manchmal lieber eine Lüge, um uns davor zu bewahren. Gleichermaßen sind wir bereit, eine unangenehme Wahrheit zu verschweigen, um den Frieden in der Gruppe aufrechtzuerhalten und das Wir-Gefühl zu stärken.
Oscar Wilde sagt dazu:
„Das Ziel des Lügners ist einfach, zu bezaubern, zu entzücken, zu erfreuen. Er ist das Fundament der zivilisierten Gesellschaft.“
Beweggründe und Alternativen zum sozial motivierten Lügen
Höflichkeit
Vom obligatorischen „Danke, es war sehr lecker!“ nach dem Abendessen bei weniger kochbegabten Freund*innen bis hin zur vorgetäuschten Freude über das kitschige Geburtstagsgeschenk der Tante: Die gut gemeinte Notlüge, um Freund*innen oder Familienangehörige nicht zu enttäuschen, ist wohl jedem von uns schon einmal über die Lippen gekommen. Und wen kümmert es schon, ob die nette Floskel oder das schnelle „Gefällt mir“-Herzchen auf Instagram wirklich ernst gemeint war? Der andere freut sich schließlich darüber – oder?
Die Alternative: Es ist zwar richtig, dass die „gut gemeinte Notlüge“ in der Regel niemandem schadet. Jedoch sollte uns auch bewusst sein, dass ihr Einsatz meist nicht so uneigennützig ist, wie es scheint: Durch die positive Bestätigung unseres Gegenübers bezwecken wir schließlich oft gleichzeitig, ein besseres Bild von uns selbst zu erzeugen. Würden wir entgegen der Konventionen häufiger die unbequeme Wahrheit aussprechen, könnten wir unser Gegenüber damit irritieren oder gar verärgern. Manchmal zeichnet eine gute Beziehung jedoch genau das aus: Dem*r anderen sein ehrliches Feedback anvertrauen und gegebenenfalls auch unangenehme Konfrontationen aushalten zu können, wenn man ihm oder ihr damit langfristig weiterhilft.
Bescheidenheit
Eine soziale Übereinkunft scheint auch dahingehend zu existieren, dass es sich nicht schickt, von sich selbst in den höchsten Tönen zu sprechen. „Eigenlob stinkt“ ist schließlich noch immer ein in vielen Köpfen fest verankerter Glaubenssatz. Und so winken wir oft schnell ab oder widersprechen unserem Gegenüber gar, wenn er oder sie uns ein nettes Kompliment macht – sogar dann, wenn wir eigentlich selbst stolz auf unsere Leistung sind.
Die Alternative: Schluss mit den alten Glaubenssätzen – es ist viel zu schade, unsere eigenen Erfolge, Talente und Stärken einfach unter den Tisch zu kehren. Stehen Sie zu ihnen und feiern Sie sich ruhig selbst, wenn Sie etwas erreicht haben! Zu wissen, was man kann, hat noch längst nichts mit Überheblichkeit zu tun. Ihre Freund*innen werden Ihnen dadurch sicher nicht den Rücken zukehren, sondern sich mit Ihnen freuen und stolz auf Sie sein.
Optimale Selbstdarstellung
Einige Lügen haben den Zweck, uns anderen gegenüber bestmöglich darzustellen – und kleine Fehlerchen gegebenenfalls zu vertuschen. Sei es gegenüber der Chefin, die nicht bemerken soll, dass ich beim letzten Projekt geschludert habe, oder dem neuen Freund, dem ich versichere, absolut ordentlich und organisiert zu sein. Durch ein paar geschickte, strategische Äußerungen vermitteln wir ein möglichst makelloses Bild, bauen gute Beziehungen auf und vermeiden Konflikte – zumindest vorübergehend.
Die Alternative: Lernen Sie, zu Ihren Fehlern und Ihrer ganz natürlichen Unvollkommenheit zu stehen. Wer den Mut hat, sich selbst in all seinen Facetten zu betrachten und verletzlich zu zeigen, ist für andere greif- und nahbarer, erzeugt Vertrauen und ebnet den Weg für offene Kommunikation. Das gilt im privaten ebenso wie im beruflichen Kontext. Eine schlechte Fehlerkultur hemmt schließlich das Entwicklungspotenzial von Mitarbeiter*innen und das Innovationspotenzial von Unternehmen.
Mehr zu diesem Thema können Sie auch in unseren Blog-Beiträgen „Fail harder!“ Warum es sich lohnt, Fehler zu machen“ oder „Warum die besseren Chefs Verletzlichkeit zeigen“ nachlesen.
Gruppenzwang
Des Weiteren gibt es Situationen, in denen wir ganz offensichtlich aus Gruppenzwang lügen. Wenn der gesamte Freundeskreis sich beispielweise einig zu sein scheint, was „gute Musik“ ist und welches Konzert am Wochenende besucht werden soll, rutscht einem schnell mal ein „Klar, ich bin auch gern dabei!“ heraus – obwohl die Band so gar nicht dem eigenen Geschmack entspricht.
Die Alternative: Versuchen Sie, sich nicht so sehr nach außen zu orientieren und stattdessen wieder mehr auf sich selbst zu hören. Durch den ständigen Vergleich und den Versuch des Anpassens an unsere „Peer Group“ gerät unser eigentliches, authentisches Ich manchmal in den Hintergrund. Nehmen Sie sich daher öfter mal Zeit für eine „Innenschau“ und die Frage: Was will ich eigentlich selbst? Das wird Sie in Zukunft nicht nur vor schlechten Konzerten bewahren, sondern Sie auch langfristig glücklicher und zufriedener machen.
Lügen, um uns selbst zu schützen: Abwehrmechanismen
Neben der Bewahrung des Zugehörigkeitsgefühls innerhalb einer Gruppe ist ein weiterer Hauptzweck des Lügens die Aufrechterhaltung unserer mentalen Stabilität. Hier kommen häufig sogenannte Abwehrmechanismen ins Spiel: psychische Vorgänge, die dem Schutz unseres Ichs und der Aufrechterhaltung unseres eigenen Selbst- und Weltbildes dienen. Sie helfen uns bei der Bewältigung bewusster oder verdrängter Konflikte und Ängste, indem sie eine innere Distanz zu diesen schaffen. Es gibt zahlreiche unterschiedliche Arten von Abwehrmechanismen. Drei Beispiele sind Verdrängung, Verleugnung und Rationalisierung:
Verdrängung
Bei der Verdrängung wird – stark vereinfacht gesagt – ein ehemals bewusster Gedanke, ein Gefühl oder eine Erinnerung aus unserem Bewusstsein verschoben und ins Unbewusste verlagert. Sei es die Verabredung mit dem nervigen Typen aus der Nachbarschaft oder die schmerzliche Erinnerung aus der Kindheit, die von Gewalt und Demütigung geprägt war: Durch den Verdrängungsmechanismus verbannen wir Unangenehmes, um die Realität für uns erträglicher zu gestalten und unsere Psyche zu schützen.
Verleugnung
Die Verleugnung ist ebenfalls eine spontane Schutzreaktion der Psyche. „Nein, das kann nicht sein!“ lautet ein typischer Ausruf, wenn wir gerade eine schlimme Nachricht erhalten haben. Wer etwas verleugnet, der will oder kann eine Realität nicht wahrhaben, obwohl er sie mit seinen Sinnen wahrnimmt. Er sieht, hört und fühlt die Realität – und ignoriert sie dennoch. Weitere Beispiele können sein, dass wir die Untreue unseres Partners nicht wahrhaben wollen, obwohl sie für Außenstehende unübersehbar scheint, oder die ersten Anzeichen einer Krankheit dementieren und uns deshalb weigern, zum Arzt zu gehen.
Rationalisierung
Mithilfe der Rationalisierung versuchen wir, Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühle, deren wahre Beweggründe wir innerlich nicht anerkennen, durch eine vermeintlich akzeptablere Erklärung zu rechtfertigen. Ein Beispiel: Es entspricht meiner Idealvorstellung, ein sportlicher Mensch zu sein – realistisch schaffe ich es jedoch maximal einmal pro Monat zum Sport. Anstatt mir einzugestehen, dass es schlicht Bequemlichkeit ist, die mich davon abhält, etwas zu verändern, rechtfertige ich mein Verhalten mit der Erklärung: „Ich arbeite einfach sehr viel und bin zudem durch meinen großen Freundeskreis so eingespannt, dass für Sport keinerlei Kapazitäten mehr frei sind.“
Die Alternative: Abwehrmechanismen sind für uns grundsätzlich unverzichtbar. Vor allem dann, wenn es um Dinge geht, auf die wir ohnehin keinen Einfluss haben. Sich ständig mit dem gesamten Unglück in der Welt zu beschäftigen, wäre für unsere Psyche schließlich nicht zu bewältigen. Fliehen wir jedoch zu leichtfertig in die Abwehr – bei Dingen, die wir selbst beeinflussen könnten und sollten – verwehren wir uns die eigene Weiterentwicklung. Das Verdrängte wird immer wieder einen Weg an die Oberfläche finden: zum Beispiel durch Träume, Misserfolge oder Konflikte. Um im Leben weiterzukommen, sollten wir daher genau reflektieren, welche Abwehrmechanismen wir selbst einsetzen und lernen, auch das Unangenehme und Schmerzhafte zuzulassen. Nur so können wir einen guten Umgang mit Belastungen üben und einen unverzerrten Blick auf die Realität entwickeln.
Mehr Liebe zur Wahrheit
Wir lügen, um die Harmonie zu bewahren und dazuzugehören, um besser dazustehen und nicht arrogant zu wirken, um nicht angreifbar zu sein und um unser Selbstbild zu schützen. Gefühlt ist es oft leichter, sich selbst und andere zu belügen, als einfach „man selbst“ zu sein. Aber „bezaubern, entzücken und erfreuen“ wir andere mit unseren Lügen wirklich – und nachhaltig? Oder sollte das „Fundament der zivilisierten Gesellschaft“ nicht eher darin bestehen, unsere Liebe zur Wahrheit wiederzuentdecken? Denn genau das zeichnet wahre Beziehungen aus: offen seine Verletzlichkeit zeigen, sich gegenseitig unterstützen und über Fehler hinwegsehen zu können.
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09.10.2019